Herr Blüm hat zu diesem Thema einen Artikel verfasst, seine Worte sind treffend, in jeder Hinsicht. Zeigen Sie doch was wir uns vielleicht nicht vorstellen wollen, das Leben ist doch so schön…….
Artikel von Herr Blüm: Vom Niedergang einer Kultur:
Sie sind die letzte Visitenkarte der Macht. Die Grabsteine großer Politiker sind ungewollte Denkmale. In Deutschland dominiert das Understatement. Oder die Kulturlosigkeit? Die Kunst des Sterbens wird nicht gelehrt.
Ich kenne viele Tote. Den Tod kenne ich nicht. Niemand, der lebt, kennt ihn. Epikur, der philosophische Lustmolch aus dem dritten Jahrhundert vor Christus, schloss daraus messerscharf, dass der Tod uns nichts angeht, „denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr“. So einfach ist das, wenn nur der Augenblick zählt: „carpe diem“. Doch der Mensch ist nicht lediglich die Summe seiner gelebten Augenblicke, und Lebenssinn nicht eine Addition von Lustmomenten. „Adi“, so fragte ich meinen Freund am Sterbebett: „Ist Sterben schwer?“ „Sterben nicht, aber bis es so weit ist, dass du es annimmst.“ Epikur kommt nicht mit den „Augenblicken“ vor dem Tod zurecht, die wir Sterben nennen. Epikur löst das Problem durch Verdrängung. Auch die moderne Gesellschaft verdrängt den Tod aus dem Gedächtnis, hält Krankheit lediglich für einen zu reparierenden Störfall und organisiert Gesellschaft als Spielfeld der Lustmaximierung. Der Playboy ist der neue Heilige. In einer solchen Gesellschaft muss Leid auf jeden Fall und unter allen Umständen vermieden, notfalls auch versteckt werden. Und so bemühen wir uns krampfhaft, den Tod aus dem Leben zu drängen. Sterbende werden ins Krankenhaus ausgelagert und auf Intensivstationen zwischen Drähten und Schläuchen isoliert. Die Intensivstation und das einsame Krankenhaus-Sterbezimmer sind die bevorzugten Orte für Todesstunden. Ganz anders habe ich es vor Jahren auf einer Leprastation in der Nähe von Madras erlebt. Leprastationen gehören nach landläufiger Meinung zu den Ekel erregendsten Orten der Welt. Doch nie habe ich würdevolleres Sterben erlebt als dort. Als einer von diesen halbverfallenen, stinkenden Patienten sich ans Sterben machte, erhoben sich alle, die noch laufen konnten, von ihren Pritschen und umlagerten das Sterbebett. Eine Schwester trat heran. Erst leise, dann lauter begannen die Anhänger von Mohammed, Jesu, Buddha und Vishnu ihre murmelnden Gebete. Die Schwester wischte dem Sterbenden die Schweißperlen von der Stirn, ließ ein Räucherstäbchen glimmen, vergoss Duftstoffe auf seinem Kopfkissen und nahm seine Hand. Eine Hand von ihr und eine von ihm: gefaltete Hände. Auf einmal war es, als lösten sich aus den ausgemergelten Gesichtszügen des Sterbenden alle Zeichen von Lebenskampf, und mit einem Anflug von Lächeln tat er seinen letzten Atemzug. Seine Leidensgenossen schleppten sich zurück auf ihre armselige Bettstatt. Außer dem Surren eines großen Ventilators war kein Laut in der großen Halle zu hören. In die Stille drang das Läuten eines Sterbeglöckleins. Der Ventilator drehte sich weiter. In den erbärmlichsten Hütten lateinamerikanischer Favelas, in den Blechbaracken Südostasiens habe ich niemanden so geschäftsmäßig einsam sterben sehen wie in den Technologiezentren westlicher Gesundheitsindustrien. Das Verlangen nach dem unsterblichen Leben treibt die Medizin in einen heillosen Wettkampf mit dem Tod. Die moderne Medizin feiert erstaunliche Triumphe. Tote werden reanimiert. Todkranke gerettet. Die durchschnittliche Lebenserwartung hat sich hierzulande innerhalb von 100 Jahren fast verdoppelt. Wer wollte die Triumphe der Medizin bestreiten? Die Steigerung der Lebenserwartung ist jedoch noch kein Sieg über den Tod. Sie ist lediglich Spielverlängerung. Aber auch die Nachspielzeit hat ein Ende, so wie jedes hinausgeschobene Ende auch ein Ende ist. Vielleicht gelingt es den Gen-Manipulateuren sogar noch, das sterbliche Leben in ein unsterbliches zu verwandeln. Wäre jedoch unsterbliches Leben wirklich erstrebenswert? Ewiges Leben kennt kein „Jetzt“, weil ihm das „Nie“ abhanden gekommen ist. Deshalb ist es schwer, sich Ewigkeit vorzustellen. Nichts wäre einmalig. Liebe als die große Sehnsucht, in einer kurzen Zeitspanne – vita brevis – die Richtige zu erwischen, würde von der Langeweile unendlicher Korrekturmöglichkeiten abgelöst. „Die oder keine“, „Der oder keiner“ gibt es dann nicht mehr. Was wäre passiert, wenn Odysseus, von Kirke bezirzt, auf Weiterfahrt verzichtet und dafür Liebe ohne Ende eingetauscht hätte? Unsägliches Leiden, Verlust der Freunde, Schiffbruch – alles wäre ihm erspart geblieben. Ja, aber auch das Glück der Heimkehr zu Penelope. Der Tod ist das Finale des Lebens. Ohne Tod verliert das Leben Sinn, und ohne Lebenssinn wird der Tod belanglos. Die Kunst des Sterbens – ars moriendi – wird in der High-Tech-Medizin nicht gelehrt. Der Gesundheitsbetrieb klammert das Finale aus. Wir leben länger, wir diagnostizieren besser, doch so tüchtig wie die Diagnose wird die Therapie nie. Wir sterben später und wir wissen sogar besser als zu jeder früheren Zeit, an was wir sterben. Doch wir sterben. „Gretel, es war alles gut“, waren die letzten von der Anstrengung ums Atemholen unterbrochenen Worte meines Vaters zu meiner an seinem Kopfende kauernden Mutter. Auf ihrem eigenen Sterbebett fragte meine Mutter den etwas ratlosen alten Pfarrer: „Herr Pfarrer, ist Sterben schwer?“ Wahrheitsgemäß antwortete dieser: „Frau Blüm, ich weiß es doch auch nicht. Ich hab’s doch auch noch nicht gemacht“, und fügte nach einer Pause hinzu: „Aber wenn man so fromm ist wie Sie, muss es doch leichter sein.“ „Na gut“, antwortete sie, „dann will ich’s mal probieren.“